Unreal • Unglaublich, aber wahr

Ist das denn die Möglichkeit? Der Namensgeber der bis heute häufig genutzten Engine wird 25. Und selbst zu seiner Zeit konnte die Optik den Atem rauben. Vor allen Dingen geraubt werden aber auch die Nerven bei der harten Gegner-KI.


Die Vorderseite der Packung der englischsprachigen Version

Während sich Epic MegaGames bis zum Jahr 1998 sich mit Shareware-Titeln wie Jill of the Jungle, Epic Pinball oder Jazz Jackrabbit einen Namen gemacht hat, wollte das Entwicklerstudio etwas Größeres kreieren: einen Shooter mit einer Grafik-Engine, bei der zu dem Zeitpunkt keiner ahnen konnte, dass diese Geschichte schreiben wird.

Aufgabe ist es, in der Rolle des Prisoner 849 vom Planeten Na Pali zu entkommen, auf dem der Gefangenentransporter Vortex Rikers zu Beginn verunfallt ist. Im Laufe der Story bekommt der Spieler mit, dass die dort lebenden Nali von den Skaarj als Sklaven gehalten werden, um die wertvollen Energiekristalle für sich zu ergaunern.

Ein Planet, so unglaublich wie seine Schönheit

Der Gefangene, dessen Spielfigur man vor Beginn des Abenteuers ein wenig individuell gestalten kann, findet sich in einem demolierten Gefangenentransporter wieder. Dort bekommt dieser recht früh den ersten essenziellen Gegenstand: den Translator. Denn die Texturen waren selbst 1998 noch nicht so hochauflösend, dass man dort vertraute Schriften lesen kann. Ein kurzer Hinweiston gibt an, wann es Zeit zum Lesen ist. Im Spielverlauf erfährt man spannende Geschichten und versteckte Hinweise, die der Translator zuverlässig übersetzt.

Neben Schluchten, Lavaseen und weitsichtiger Natur bekommt man sehr früh die Brutalität der Gegner zu spüren. Nur ein Blick in die Höhle riskiert, schon kommen sie mit Raketenwerfer um die Ecke geschossen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein erfreulicher Einstieg in das unwahre Vergnügen. Da helfen nur ein gutes Waffenarsenal und hilfreicher Schutz, selbst wenn dieser manchmal über Umwege erreicht werden muss. Crouch-Jumping wie im später erschienenen Half-Life gibt es hier nicht.

Nicht nur Schalter – die hin und wieder fies versteckt sind – müssen mit der Kraft des eigenen Körpers eingedrückt werden, selbst die Displays, die dank des Translators hilfreiche Informationen von sich geben, können Schalter sein. Selbst wenn wenig später in einem Flur nach mehreren ausfallenden Lichtern der berühmt-berüchtigte Skaarj vor einem steht, der es sogar schafft, dem auf ihn zukommenden Kugelhagel auszuweichen. Stumpfes Schießen ist hier nicht drin, die Gegner-KI ist äußerst schlau. Sie findet manchmal sogar den Weg zum Spieler.

Doch nicht alles, was sich bewegt und Geräusche von sich gibt, ist gefährlich. Die Nali fürchten sich vor einem, wenn man diese anschießt. Wenn sie verschont werden, öffnen sie Geheimverstecke mit nützlichen Gegenständen. Wie praktisch. Doch man sollte sich darauf gefasst machen, in jeglichen Räumen mit Feinden zu rechnen. Selbst die, die nicht mal zum nächsten Level führen, aber für ein 100-prozentiges Durchspielen von Wichtigkeit sind.

Na Pali und Skaarj – absolut kein Traumpaar

In den insgesamt 38 Level kommen der Spielfigur die Skaarj und fünf seiner Lakaien entgegen, die allesamt jegliche Gelegenheiten nutzen wollen, alles und jeden zu töten, der sich ihnen in den Weg stellt. Das können gut und gerne auch die eigenen Kollegen sein. Diese haben es sich in tiefen Tempeln, in Burgkomplexe, in Raumstationen und natürlich an deren Quelle gemütlich gemacht. Gelegentliche Bosskämpfe inklusive.

Manche Level bestehen aus so vielen verzweigten Gängen, dass man ohne Karte und ohne Orientierungssinn sich zweifelsohne verlaufen kann. Ein verschlossener Gang kann an einem bestimmten Punkt geöffnet werden oder öffnet sich nur, wenn alle Gegner getötet werden. Manche Gebiete sind hingegen so dunkel, dass nicht einmal das Spielen in völliger Dunkelheit (Anm. d. Red.: Wir raten davon dringendst ab!) behilflich ist. Dagegen gibt es Taschenlampen oder Leuchtstäbe, die für eine kurze Zeit das unbekannte Terrain bekannter machen.

Überraschungen sind ebenfalls gegeben. Neben dem genannten Beispiel mit dem Licht im Flur wird eine Tür vor der Nase verschlossen und ein Gegner taucht hinter dem Rücken des Spielers auf. Oder ein seltsamer Riss an der Wand offenbart nach einem Beschuss eine Möglichkeit zum Fortschreiten. Fahrten mit Booten, Plattformen oder Fahrstühlen bieten mitunter während der Beförderung Action, wenn die Gegner einen dabei erwischen. Die freie Speichermöglichkeit, die man nicht unerwähnt lassen sollte, macht das Durchspielen dabei sehr bequem.

Der Planet kann mit großer Weitsicht und jede Menge Details punkten. Gebäude gewähren einen Blick nach innen, Lichteffekte sorgen für Stimmung und Atmosphäre, selbst die Mechanik von Türen ist animiert und kein stumpfes Standbild. Dafür brauchte es allerdings seinerzeit einen starken Rechner. Selbst die Anleitung empfiehlt für das beste Vergnügen einen Pentium II, der 1998 nach wie vor nicht günstig war.

Die Hassliebe zur KI

Na Palis ungebetene Gäste sind nicht ohne. Der Großteil ist schon im mittleren Schwierigkeitsgrad nur mit viel Taktik zu besiegen. Präzises Zielen auf kritische Körperstellen – eigentlich ist das in den allermeisten Fällen der Kopf – wird da schon zur Pflicht. Dass selbst die zehn Waffen gegen diese Truppe fast schon hilflos wirkt, spricht Bände. Oder dafür, dass der Verfasser dieser Zeilen in Multiplayer-Partien dieses Shooters gnadenlos verlieren könnte.

Zum Beispiel sind die Skaarj wenig beeindruckt, wenn man diese mit zwei oder drei Stück Raketen beschießt. Sofern man mit dem RazorJack und deren scharfen Klingen nicht umgehen kann, dauert es lange, bis es den Kopf einer Gegner-KI absägt, was sogar in der deutschen Version sichtbar ist. Effektiver sind dagegen das Präzisionsgewehr und die MiniGun. Jede Waffe verfügt zudem über Sekundärfeuer. Ein wenig lächeln wird man dabei beim Sekundärfeuer der AutoMag: „‘Gangsta‘-style sideway cariage […]“, so wie es die englische Anleitung beschreibt.

Regelmäßiges Ausweichen ist außerdem essenziell. Denn die KI bleibt nicht stumpf auf einem Punkt und beschießt den Spieler. Nein, sie läuft links, rechts, hoch und runter. Und wenn man schon den besten Schuss seines Lebens auf diese Bösewichte plant, sollte man sich nicht zu früh freuen, denn die KI bedankt sich mit einem Schritt zur Seite.

Ich liebe das, weil das von Cleverness zeugt. Ich hasse es, weil ich die Biester nicht erwische. Gnarf!

Technisch eine Unmöglichkeit?

Auf dem Testsystem lief Unreal überraschend gut. Es gab im Laufe des Spiels immer wieder Passagen, die die Framerate in einen ziemlich niedrigen Bereich drückten, aber ganz selten der Unspielbarkeit nah war. Und das bei einer Auflösung von 800×600 Pixel. Einer Auflösung, die zu der Zeit gefürchtet war.

Da das Spiel ohne weitere Patches gespielt wurde, gab es keine Schnellspeicherfunktion. Dementsprechend musste das Menü abgerufen und der entsprechende Menüpunkt ausgewählt werden. Die Ladevorgänge dauerten mitunter gerne mal bis zu zehn Sekunden.

Zu Beginn gab es kleinere Soundmacken, die sich dadurch äußerten, dass die Musik etwa nur auf dem linken Lautsprecher zu hören war. Später ist das Problem nicht mehr wiedergekommen. Gerne überlappte das Geräusch beim Fallen von verschossener Munition.

Sogenannte „game breaking bugs“ sind mir im Laufe der etwas über 15 Stunden, die ich für einen kompletten Durchlauf im mittleren Schwierigkeitsgrad brauchte, nicht aufgefallen. Lediglich Kleinigkeiten wie plötzlich verschwundene Gegner und Gegenstände oder das Betreten einer Tür, die man eigentlich nicht betreten sollte. An einer Stelle fiel der Spieler durch ein kleines Raumschiff.

Die Soundeffekte bringen viel Atmosphäre und einen leichten Hauch von Horror rein, die Musikuntermalung ist sehr stimmig und die Grafik zählt zu dem besten, was ich je in einem 1998 veröffentlichten Spiel gesehen habe. Die Spielbarkeit durch Maus- und Tastatursteuerung ist überaus gegeben, selbst wenn ich mir bei der Bewegung etwas mehr gewünscht hätte. Nahkampfwaffen wären auch nicht schlecht gewesen.

Fazit: (Un)wahrlich nah am Prädikat „Meisterwerk“!

Der Nali (links) ist erschrocken darüber, dass der Text schon vorbei ist. Während hinter ihm ein Gegner (Mitte) wartet.

Selbst wenn im gesamten Spielverlauf so gut wie nie gesprochen wird, die Story erzählt sich durch die zahlreichen Anzeigen, die sich überall in der wunderschönen Welt des Planeten Na Pali verteilt haben. Auch wenn dieser von den mächtigen Skaarj belagert wird, die einen das Leben zur Hölle machen. Es braucht starke Nerven und viel Geschick, um eins mit der KI zu werden. Denn sonst fällt die Sucherei durch die umfangreichen und abwechslungsreichen Level mit Schalterdrücken und Rätselabschnitten nicht allzu groß ins Gewicht.

Doch nicht nur große Areale und starke Gegner warten auf den Spieler. Mit entsprechender Hardware wird das Spiel optisch zum Hingucker und akustisch zum Hinhörer. Spiegelnde Böden, beeindruckende Leuchteffekte, schicke Texturen… und das alles ohne einen Nebel, der sonst da wäre, um Ressourcen zu sparen.


Episch, riesig und hart: das wären meine drei Adjektive, um Epics Werk des Jahres 1998 kurz zu beschreiben. Episch, weil es optisch und akustisch absolut überzeugt. Riesig, weil es in den zahlreichen Level viel zu entdecken gibt. Hart, weil die Gegner-KI so ungeheuer clever ist. Möge es in der Zeit ein absoluter Hardwarefresser gewesen sein und mögen die Wege zum nächsten Abschnitt nicht immer ganz schlüssig sein, Unreal bietet ein wahrlich abwechslungsreiches Shooter-Abenteuer.


Testsystem

Betriebssystem:Microsoft Windows 98 SE (Second Edition)
Prozessor:Intel Pentium II 350
Grafikkarte:3dfx Voodoo 3 3000 AGP
Soundkarte:Creative SoundBlaster Live! Value CT4670
Festplatte:Samsung SpinPoint SV4084H (40GB)
Arbeitsspeicher:256 MB SDRAM

Daten zum Spiel

Titel:Unreal
Erscheinungsdatum:22. Mai 1998
Entwickler:Epic MegaGames, Digital Extremes
Publisher:GT Interactive
System:Windows, Macintosh
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