Von Chefarzt diagnostiziert: Mini-Retro-Wahn

In den vergangenen Monaten schossen kleine Nachbauten klassischer Konsolen und Computer nur so aus der Erde wie der Spargel auf dem Feld und haben sich auch mindestens so gut verkauft. Aber werden die Minikonsolen ihrem Anspruch, vor allem im direkten Vergleich zu ihren Ursprüngen, gerecht?


Sei es als lizenzierte Variante wie der Commodore 64 Mini von Retro Games oder direkt vom originalen Hersteller wie das NES Classic Mini und SNES Classic Mini von Nintendo, die neuen Kleingeräte mit Hang zur Vergangenheit haben sich rasch auf dem Markt platziert und dort auch entsprechenden Anklang gefunden. Besonders begehrt sind Nintendos Mini-Konsolen, die zwischenzeitlich ausverkauft waren und nur über Wiederverkäufer zu horrenden Preisen bezogen werden konnten. Des Weiteren soll das Angebot auch auf weitere historische Plattformen wie den Amiga 500 erweitert werden, sogar ein goldener NES Mini ist geplant. Doch können die kleinen Nachbauten wirklich ein richtiges Retrogefühl erzeugen oder ist der Hype nichts weiter als heiße Luft?

Wir Menschen sind geprägt durch Erinnerungen und Erfahrungen, die wir aus unseren Erlebnissen mitnehmen. Das gilt übergreifend für sämtliche Bereiche unseres Lebens, und damit auch für Videospiele. Wir blicken gern auf die damaligen Konsolen und Spiele zurück, schwelgen in den Erinnerungen und freuen uns, wenn wir selbst wieder die Musik der geliebten Klassiker hören oder gar die alten Charaktere noch einmal steuern dürfen. Doch die alte Konsole ist schon längst verkauft, verschenkt oder beim Umzug verloren gegangen. Ein solcher Nachbau ist also eine passende Gelegenheit, diese Erinnerungen erneut aufleben zu lassen. Gleichzeitig ist es aber auch eine völlig neue Erfahrung, die mit der Vergangenheit konkurrieren muss.

Von Vorteil ist, dass die Geräte über aktuelle Anschlüsse verfügen und so direkt per HDMI an den Fernseher angeschlossen werden, während sie Strom über einen Micro-USB-Port bekommen. Ein solches Netzteil ist üblicherweise aber nicht enthalten. Es ist schade, dass eine Konsole nicht ab Werk ohne zusätzlichen Adapter in Betrieb genommen werden kann. Letztlich ist es aber durchaus zu verschmerzen, da nahezu jedes Smartphone einen passenden Stecker mitliefert.

Alle Mini-Konsolen verfügen über fest installierte Spiele, bei denen es sich zumeist um die gut verkauften Klassiker handelt. Nintendo hat dabei vorrangig auf die eigenen Titel gesetzt und verschiedene Teile der Super-Mario-, Donkey-Kong- und Zelda-Reihe integriert. Insgesamt sind 21 (SNES), respektive 30 (NES) Spiele spielbar. Dabei handelt es sich ausschließlich um englischsprachige Versionen. Unterschiedliche Lokalisationen gibt es also nicht. Das Erweitern dieser Anzahl durch das Aufspielen von ROMs wird offiziell nicht unterstützt und auch die alten Cartridges lassen sich nicht gebrauchen.
Anders ist das beim C64 Mini. Die meisten der 64 Spiele sind hier weniger bekannt, da Commodore anders als Nintendo keine Spiele produziert hat und sich bei vielen Titel die jeweiligen Rechte nur schwer ausmachen ließen. Allerdings können hier auch weitere Spiele über den USB-Port hinzugefügt werden.

Die Handhabung ist allerdings fernab jeglicher Benutzerfreundlichkeit. Das Gerät verfügt über zwei USB-Anschlüsse. Das Aufspielen eines externen Titels benötigt aber drei Ports, da neben dem USB-Stick, von dem das Spiel kopiert wird, auch eine Tastatur und der Joystick gebraucht werden. Neben dem Ladeadapter muss hier unter Umständen auch ein USB-Hub hinzugekauft werden. Des Weiteren wird der USB-Stick als Diskettenlaufwerk emuliert, sodass sich dort nur ein Spiel gleichzeitig befinden kann, das darüber hinaus speziellen Anforderungen bei der Dateibenennung unterliegt. Weiterhin sind hier die alten Datenträger nutzlos.

Gleiches gilt auch für originale Controller und entsprechendes Zubehör. Die neuen Pads verfügen über einen neuen, kleineren Anschluss und machen so die alten Steuerungseinheiten obsolet. Besonders nachteilig ist das beim NES Classic Mini, da die Kabellänge der Controller deutlich geringer ist als bei den originalen. Weiteres Zubehör wie der NES Zapper oder der Konami LaserScope wird, unabhängig vom Hersteller, nicht unterstützt.

Nicht nur die Emulation eines Diskettenlaufwerks, sondern die Emulation des Systems allgemein, ist noch nicht richtig ausgereift. Die Farbdarstellung entspricht nicht dem Vorbild und die Eingabeverzögerung macht Spiele, die auf schnelles Reaktionsvermögen setzen deutlich schwieriger oder gar unspielbar. Immerhin sind die Kanten der Texturen zumeist schärfer als bei den Originalen. Dasselbe wie das Spielen an einem Röhrenfernseher ist das aber nicht, auch nicht unter Einsatz der teils zuschaltbaren Grafikfilter.

Im Preisvergleich der Mini-Konsolen zu den alten Gebrauchten sind die echten Retrokonsolen oftmals günstiger. So lässt sich beispielsweise ein gebrauchtes NES für durchschnittlich 50 Euro bekommen, die Mini-Variante wird für 70 Euro verkauft. Das relativiert sich jedoch dadurch, dass die Spiele einzeln hinzugekauft werden müssen. Im Gegenzug lassen sich dann die Spiele frei wählen und so finden dann auch die weniger bekannten Spiele der Kindheit wieder zurück.

Insgesamt sind die kleinen Konsolen eine wirklich gute Idee. Für einen überschaubaren Preis gibt es funktionsfähige Geräte, die über eine Vielzahl verschiedener Klassiker verfügen. Und das reicht den meisten, die gelegentlich mit Freunden eine abendliche Spielerunde veranstalten und sich neben Spielen an die alte Schulzeit erinnern wollen. Dem anspruchsvollen Retrospieler werden die Geräte nicht gerecht. Im Detail finden sich zu viele Fehler, die den Retrogenuss trüben. In Anbetracht dessen ist der Hype um die Geräte überzogen, aber nicht unbegründet.

Zusätzliche Quellen: 4PlayersIGN, Techradar, Techstage, The 8-Bit Guy, VG24/7
Zusätzliche Bildquellen: Koch Media, Nintendo

chevron_left
chevron_right

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kommentar
Name
E-Mail
Website